Schizophrenie
Eine grundsätzliche und
kritische Erörterung aus biologischer Sicht.
Wiener klinische Wochenschrift
Die Schizophrenie ist die
Umbennenung eines Krankheitskonstrukts. (vgl. Häfner, 1982, S.14) 1899 ordnete der
deutsche Psychiater Emil Kraepelin (1856-1926) den Symptomen (und deren
Verlauf) eines Teils seiner Patienten den diagnostischen Begriff
"Dementia praecox" ("primäre" bzw. "verfrühte
Demenz") zu. Der Schweizer Eugen Bleuler (1857-1939) verdrängte ab
1911 mit dem Namen "Schizophrenie" (bzw. die "Gruppe der
Schizophrenien") - den er im wesentlichen für dasselbe
"Patientengut" prägte - die "Dementia praecox". Die
beiden Begriffe entstanden am Ende des neunzehnten und zu Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts auf Grund von Beobachtungen in psychiatrischen
Anstalten. Heute ist es unbestritten, dass der Aufenthalt in diesen
Anstalten schwerwiegende Auswirkungen auf den psychischen Zustand der
Betroffenen hat. Dabei muss beachtet werden, dass damals die Patienten sehr
oft lebenslänglich hospitalisiert wurden. Kraepelin und Bleuler haben damit
im wesentlichen den Hospitalismus ihrer Patienten beschrieben. (vgl. Rufer,
1991, S.113f)
Die Ansichten darüber,
welche Symptomatik als schizophren zu diagnostizieren ist, hat sich seit den
sechziger Jahren - insbesondere in den USA - wesentlich verändert. (vgl.
Feer, 1985, S. 94) Zudem "wurde bei internationalen Vergleichsstudien
die Diagnose 'Schizophrenie" in den Vereinigten Staaten gegenüber
Grossbritannien unvergleichlich häufiger gestellt." (Fritze, 1989,
S.10)
Aufschlussreich - doch ohne Folgen - war das
bekannte Experiment von David L. Rosenhan, das 1973 in der renommierten
Zeitschrift "Science" publiziert wurde. (vgl. Rosenhan, 1981) Die
Psychiater von dreizehn US-amerikanischen psychiatrischen Ansta lten waren nicht in der Lage,
"Scheinpatienten" von "echten Schizophrenen" zu
unterscheiden.
Und trotz dieser Unklarheiten
hat die Psychiatrie bis heute die Idee der Vererbung der Schizophrenie nicht
aufgegeben. Wie soll denn die Vererbung eines Konstruktes bewiesen werden?
So sind denn auch die Zwillings- und Adoptionsstudien, die die Vererbung
der Schizophrenie beweisen sollten, wissenschaftlich nicht haltbar. (vgl.
Lewontin et al., 1988)
Seit einger Zeit wird mit
grosser Intensität versucht, gentechnologisch
die Vererbung der Schizophrenie (und auch der Manie)
nachzuweisen. Vermeintliche Erfolge dieser Forschungsrichtung erwiesen sich
bald einmal als Fehlschläge. Und dennoch wird hektisch weitergeforscht.
(vgl. Rufer, 1993) Um die Idee der so schwer zu beweisenden Vererbung der
Schizophrenie zu retten, wurde auf den alten Begriff
"Vulnerabilität" (Verletzbarkeit, Verwundbarkeit)
zurückgegriffen. Nur unter ungünstigen Lebensumständen würde die vererbte
Vulnerabilität zur manifesten Krankheit. (vgl. Zubin, 1977) Doch auch die
Vulnerabilität ist ein hypothetisches Konstrukt. Dazu kommt, dass der
Begriff Vulnerabilität in der Fachliteratur uneinheitlich definiert wird.
(vgl. Rufer, 1993, S.151f)
Die Diagnose Schizophrenie wird heute dann gestellt, wenn
eine psychische Störung mindestens sechs Monate andauert und mindestens
während eines Monats zwei der folgenden Symptome zu beobachten sind:
Wahnphänomene, Halluzinationen, desorganisierte Sprechweise (z.B. häufiges
Entgleisen oder Zerfahrenheit), katone Symptome wie Erregung,
Haltungssterotypien und negative Symptome d.h. flacher Affekt, Mutismus
oder Willensschwäche. (vgl. Sass et al., 1996, S.327, 340; Dilling et al.,
1991, S.96f) 
Es braucht zum Verständnis
von Wahn,
Halluzinationen, katonem Verhalten usw. den unklaren psychiatrischen
Begriff der Schizophrenie nicht. Von psychoanalytischen Begriffen
ausgehenden Erklärungsmöglichkeiten sollen im folgenden kurz skizziert
werden: In der Regression (bzw. der psychotischen Regression) sind, wie im
Traum bestimmte Kontroll-mechanismen (Ich-Funktionen) ausser Kraft gesetzt,
was zu einer Wiederbelebung frühkindlicher Erlebnisweisen, Affekte und
Erinnerungen führt. Regressionserscheinungen sind immer mit partiellen
Realitätsverlust, Orientierungslosigkeit, Wahrnehmungsverzerrungen und oft
auch mit Angst verbunden. (vgl. Kernberg, 1978, S. 162, 209; Rufer, in
Vorbereitung) Beispielsweise kann die Konfrontation mit einer überlegenen
(oder als überlegen erlebten) Gewalt zur Unbewusstmachung der eigenen Aggressionen,
zur zunehmenden Regression und zum Verlust der Realitätskontrolle führen.
(vgl. Erdheim, 1982, S.418/431) Die projektive Identifizierung, eine
Frühform der Projektion, kann die Entstehung von Wahn verständlich machen:
Eigene Aggressionen werden nach aussen projiziert, wodurch
vergeltungssüchtige Objekte entstehen, gegen die der Betroffene sich zur
Wehr setzen muss. (Kernberg, 51f/76)
Zudem ist bekannt, dass aussergewöhnliche
Bewusstseinszustände (ABZ) bzw. veränderte Wachbewusstseinszustände (VWB) -
klinisch nicht zu unterscheiden von der akuten paronoiden Schizophrenie -
bei jedem Menschen u.a durch Reizentzug (sensorische Deprivation), Fasten,
Schlafentzug und Hyperventilation auszulösen sind. (vgl. Dittrich &
Scharfetter, 1987; Simoes 1994)
Die akute Schizophrenie entspricht demnach einer durch
die verschiedensten psychischen Belastungen ausgelösten Regression mit
ausgefallener Realitätsprüfung, bzw. einem angstvoll erlebten ABZ. Die
chronische Schizophrenie wird wesentlich von den Zukunftserwartungen der
Familie, der Betreuer und dem Betroffenen selbst bestimmt. Dies alles
beeinflusst die für die Chronifizierung wesentliche Identifikation mit der
sozialen Rolle der Geisteskrankheit (bzw. der Schizophrenie). Die
intellektuell und emotional beeinträchtigenden Folgen der Langzeitverordung
von Neuroleptika tragen ebenfalls zur Chronifizierung bei. Mit gutem Grund
kann die chronische Schizophrenie als Artefakt bezeichnet werden. (vgl.
Ciompi, 1980, S.237; Schubert, 1982, S.51)

Was psychiatrische Diagnosen - und damit auch die
Schizophrenie - im Grunde sind, macht der Psychiater Volker Dittmann,
Mitarbeiter bei der Zusammenstellung eines der beiden anerkannten
Klassifikationssysteme psychischer Störung (ICD-10, dem Diagnosesystem der
Weltgesundheitsorganisation) deutlich: Er bezeichnet diese Diagnosesysteme
in einem Interview einerseits als Konventionen und andererseits als politische
Produkte. (vgl. Dittman, 1996, S.35)
Ciompi, L. (1980). Ist die chronische Schizophrenie
ein Artefakt? - Argumente und Gegenargumente. Fortschr. Neurol. Psychiat.
48, S.237-248)
Dilling, H. & Mombour, W. & Schmidt, M.H.
(Hg).(1991). Internationale Klassifikation psychischer Störungen: ICD-10.
Bern
Dittmann, V. (1996) Interview in: Psychologie
heute. 4. S. 34-49.
Dittrich A. & Scharfetter C. (1987).
Phänomenologie aussergewöhnlicher Bewusstseinszustände. In:
Dittrich A & Scharfetter C. (Hg.) Ethnopsychotherapie.
(S. 35- 43) Stuttgart.
Erdheim, M. (1982) Die gesellschaftliche Produktion
von Unbewusstheit. Frankfurt am Main.
Feer, H. (1985). Biologische Psychiatrie.
Stuttgart. Fritze, J. (1989). Einführung in die biologische Psychiatrie.
Stuttgart.
 
Literaturliste
Häfner, H. (1982) Beziehung zwischen
Beziehung und Verlauf bei der Schizophrenie. In: Beckmann, H. Biologische
Psychiatrie. Fortschritte psychiatrischer Forschung. (S.14-18)
Stuttgart/New York.
Kernberg, O.F. (1978). Borderline-Störungen und
pathologischer Narzissmus. Frankfurt a.M.
Lewontin R.C. & Rose S. & Kamin L.J.
(1988). Die Gene sind es nicht... München-Weinheim.
Rosenhan D.L. (1981). Gesund in kranker Umgebung.
In: Watzlawick P. (Hg.) Die erfundene Wirklichkeit. (S. 91-137) München.
Rufer, M. (1993) Verrückte Gene. Psychiatrie im
Zeitalter der Gentechnologie. In: Kempker K. & Lehmann P. Hg. Statt
Psychiatrie. (S.137- 155) Berlin.
Rufer, M. (1991). Wer ist irr? Bern
Rufer, M. (in Vorbereitung). Psychiatrie - Täter,
Opfer, Methoden
Sass, H. & Wittchen, H.-U. & Zaudig, M.
(1996) Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen
DSM-IV. Göttingen.
Simoes, M. (1994). Das akute paronoide schizophrene
Syndrom und veränderte Wachbewusstseinszustände (VBW): Ein Beitrag zur
VWB-Hypothese. In: Dittrich A. & Hofmann A. & Leuner H. (Hg.)
Welten des Bewusstseins. Band 3. Berlin.
Schubert, H et al. (1988). Zur Minussymptomatik bei
chronisch schizophrenen Patienten und deren Ansprechen auf Neuroleptika.
In: Bender, W. et al. Schizophrene Erkrankungen.(S.50-59), Gütersloh
Z ubin, J. & Spring B. (1977).
Vulnerability - A new view of schizophrenia. Journal of Abnormal
Psychology. 86, S. 103-126
|