Beobachter
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24.12.99
Mensch
und Justiz:
Richterarbeit als "Wurstsalat" beschimpft
Wie
bissig darf ein Anwalt sein? Edmund
Schönenberger, Kämpfer gegen die Zwangspsychiatrie,
beschimpft die Justiz als "Affentheater". Die Folge: Busse
und befristetes Berufsverbot. Doch der Aufmüpfige zieht
den Fall weiter.
von
Ueli Zindel
Ewige Ruh. Auf immer ewige Ruh." Der junge Mann hat das
Kartonkreuz auf seiner Brust mit einem fetten Filzstift
beschrieben. Eine Frau in der Ecke des Eingangsraums referiert
leise vor sich hin: "Terrorregime. Ein fertiges Terrorregime."
Entrée und Warteraum des Obergerichts sind rauchgeschwängert.
Obwohl die Verhandlung frühmorgens beginnt, ist Publikum
aus der ganzen Schweiz hergereist. Ein älterer Herr
schlägt die Hacken zusammen. Er grüsst, den Blick
in die Ferne gerichtet, und lacht.
In wenigen Minuten wird die Aufsichtskommission über
die Zürcher Rechtsanwälte tagen. Sie wird ein
Urteil fällen über Edmund Schönenberger,
Advokat. Wird er seinen Beruf weiterhin ausüben dürfen?
Schönenberger kämpft seit 1987 für Menschen,
die gegen ihren Willen in einer psychiatrischen Anstalt
festgehalten werden.
Erster öffentlicher Anwaltsprozess
Die Türflügel des Geschworenensaals öffnen
sich. In kurzer Zeit sind die 120 Sitze des Saals besetzt.
ähnliche Anlässe fanden bisher nur hinter verschlossenen
Türen statt; andere Anwälte bangen um ihr Patent
lieber im Verborgenen. Schönenberger wünschte
ausdrücklich, dass der Anlass öffentlich stattfindet.
Es ist 8 Uhr 15. "Die Anhörung ist eröffnet",
erklärt jetzt der Gerichtspräsident via Mikrofon.
Stille. "Nur eine Anhörung?", ruft der Angeklagte.
"Sie könnten ja auch ein Gespräch mit mir führen!"
"Ja", sagt der Richter und macht eine bedeutungsvolle
Pause, "wenn ich dies für nötig erachte." Abermals
Pause.
Schönenberger zuckt die Achseln. Ein "historischer
Prozess" finde hier statt, erklärt er dann. Bei allen
anderen Prozessen habe er mutterseelenallein vor den Richtern
gestanden. Historisch sei der Prozess
auch deswegen, weil er seine Notizen zum ersten Mal schriftlich
festgehalten habe, "für die Nachwelt nämlich".
Und historisch ist auch das Zitat, das er seiner Rede voranstellt:
"Mit grösserer Furcht verkündet ihr vielleicht
das Urteil, als ich es entgegennehme." Es stammt von Giordano
Bruno, dem Ketzer, der im Jahr 1600 in Rom verbrannt worden
war. Ein schwieriger Morgen.
Eine lange Geschichte. Eine Anklageschrift gibt es nicht.
Es dauert dreiviertel Stunden, bis wir erfahren, was Schönenberger
vorgeworfen wird. "In aller Deutlichkeit" hält dieser
fest, dass er weder eine Bank ausgeraubt, einen Menschen
umgebracht noch einem Klienten geschadet habe; es gehe dem
Gericht einzig darum, ihn auszuschalten. "Das stinkt ja
zum Himmel!"
Schönenberger
wird vorgeworfen, er habe seine Anwaltspflichten gröblich
verletzt. In einer Eingabe zuhanden des Obergerichts, einem
gerichtsinternen Dokument, hatte er 1998 von einem "ungeniessbaren
juristischen Wurstsalat" gewisser Richter gesprochen; sie
hätten sich einen "epochalen Betrug" zuschulden kommen
lassen; bei dem Verfahren habe es sich um "reines Affentheater"
gehandelt, ja die hohen Richter hätten "betmühleartig
ihre Sprüchlein von Recht und Gerechtigkeit" heruntergeleiert.
Das kritisierte Gericht hatte entschieden, dass eine Tochter
den Klinikaufenthalt ihrer zwangspsychiatrisierten Mutter
zu finanzieren hatte, die verstorben war. Beteiligt an diesem
Urteil waren auch österreichische Richter. Schönenberger
sprach von der "vereinigten habsburgischen und alpengermanischen
Plutokratie".
Die
Aufsichtskommission über die Rechtsanwälte des
Kantons Zürich besteht aus drei Oberrichtern, einem
Staatsanwalt und drei Anwälten des kantonalen Anwaltsverbands.
Sie stutzen, sie lächeln, und sie sind konsterniert.
Edmund Schönenbergers Eingangsreferat dauert knapp
eine Stunde. "Mein Territorium ist von der Grösse einer
Schuhsohle", erklärt er. "Ich gehöre keiner Nation
mehr an." Er lächelt zu seinem Publikum. "Ich habe
gelernt, mich im Dschungel der Blutgeldmetropole zu bewegen."
Er hebt den Zeigefinger: "Dieser Staat präsentiert
sich als Diktatur der Reichen." Der Angeklagte hat geschlossen.
Stürmischer Applaus,
Jauchzer, Bodenstampfen. Schönenberger bedankt sich
herzlich. Ein Zuschauer erhebt sich, spricht den Richter
an: "Könnten Sie mir jetzt endlich Ihren Namen sagen?
Ich hasse Anonymität!" Der Vorsitzende stellt höflich
die richterliche Runde vor. Eine Dame ruft: "Und welchen
Parteien gehört ihr eigentlich an?" Der Richter: "Wenn
die Verhandlung weiterhin gestört wird, muss ich den
Saal räumen." Es wird still.
Kritik
an der Zwangspsychiatrie
Schönenberger ist ein Mann mit Prinzipien. Noch nie
hat er einen wirtschaftlich Stärkeren gegen einen wirtschaftlich
Schwächeren verteidigt. Dies hält sein Anwalt
nachdrücklich fest. Das Verfahren gegen seinen Mandanten
sei blanker Zynismus; er habe gegen den Irrsinn unserer
Psychiatrie Pionierarbeit geleistet. Ein Advokat sei nicht
Diener des Gerichts, sondern des Klienten. Für das
Wort "Affentheater" sei allerdings eine Entschuldigung vonnöten.
über Jahre hätten nicht wenig Aerzte die Meinung
vertreten, nur sie wüssten, was für ihre Patienten
gut sei; die "Kranken" hätten keine Verteidigung nötig.
"Die Zwangspsychiatrie ist und bleibt ein Politikum!"
Nach knapp zwei Stunden leert sich der Saal. Das Gericht
zieht sich zur Beratung zurück.

L.B.,
ein Bankangestellter, erzählt derweil im Warteraum
seine Geschichte: Seine Frau habe ihn verlassen; er habe
verzweifelt seinen Hausarzt aufgesucht; dieser habe ihn
prompt internieren lassen gegen seinen Willen. "Schönenberger
holte mich raus." B.S., einer jungen Frau, erging es ähnlich.
Wegen Unwohlseins hatte sie sich ins Kantonsspital begeben.
Auch ihre Konsultation führte zwangsweise in die psychiatrische
Klinik. Der angeklagte Anwalt holte sie wieder raus. Nationales
Aufsehen erregte ein Fall von 1984: Er war als Titelgeschichte
im Beobachter zu lesen. 22 Jahre hatte Karl W. in psychiatrischen
Kliniken zugebracht und dabei zahllose Entlassungsgesuche
gestellt. Die Aerzte stuften ihn als unheilbar ein. Ein
Leben in Freiheit, hiess es, sei dem "Schizophrenen" nicht
zuzumuten. Karl W. hatte zwangsweise Medikamente einzunehmen.
Sein äusseres vernachlässigte er stark, doch kriminelle
Handlungen hatte er keine begangen. Nach zehn Jahren Prozessierens
wurde Karl W. wegen Freiheitsberaubung eine Genugtuungssumme
von 120'000 Franken zugesprochen. Er lebt seither wohlauf
in Freiheit. Ohne Medikamente.
Urteil:
Busse
und Berufsverbot Schönenbergers Verdienste sind unbestritten;
sie haben aber auch etliche Schattenseiten. Die Frage, ob
all seine "befreiten" Mandanten mit ihrer Freiheit auch
umgehen können, darf mindestens gestellt werden. Die
Psychiatrie ist nicht, wie Schönenberger vertritt,
grundsätzlich unnötig. Der Angeklagte aber liebt
Grundsatzfragen; was er nicht schätzt, ist Diplomatie.
Hat Schönenberger also seine Anwaltspflichten "gröblich
verletzt"? Wählte er eine ungebührliche Sprache?
Es ist 10 Uhr 15.
Schönenberger ist siegesgewiss. "Das kommt gut!", strahlt
ihn ein Herr aus dem Publikum an. Es kam nicht gut. Edmund
Schönenberger wird mit einer Busse von 1000 Franken
bestraft; die Gerichtsgebühr geht zu seinen Lasten;
den Beruf darf er während dreier Monate nicht me hr
ausüben. Gegen das Urteil wird er Berufung einlegen.
TA
11.6.1997
PSYCHEX-Beschwerde gestützt
Eine vom Bundesgericht
1995 abgewiesene Klage aus dem Kanton Zürich im Zusammenhang
mit Patienteninformation ist nicht vom Tisch.
Die Europäische Menschenrechtskommission
in Strassburg hat eine Klage des Vereins PSYCHEX
zugelassen. Das Bundesgericht hatte einen Entscheid des
Regierungsrats gestützt. Er hatte es dem Verein untersagt,
mit einem Rundbrief unfreiwillige Patientinnen und Patienten
der Psychiatrischen Klinik Rheinau über deren Rechte
zu informieren. Die Parteien seien nun aufgefordert, der
Kommission in Strassburg Vorschläge für eine gütliche
Einigung zu unterbreiten, teilte der Verein mit.

TA
29.6.1996
Nach 16 Jahren
aus der Klinik entlassen
Ein harmloser Exhibitionist war
seit 1980 in der Klinik Hard interniert, obwohl die Aerzte
ihm gar nicht helfen konnten
Zuerst war es eine strafrechtliche Massnahme,
die dauernd verlängert wurde. Dann versuchte die Vormundschaftsbehörde,
den Mann in der Klinik zu behalten. Doch weder die Aerzte
noch der Richter sahen einen triftigen Grund dafür.
Autor: VON DANIEL SUTER
Unspektakuläres Ende einer beinahe endlosen
Internierung: Ein strahlender Reto Huber (Name geändert)
stand am Dienstagnachmittag auf der Piazza des Psychiatrie-Zentrums
Hard in Embrach: "Jetzt gehe ich heim." Heim wohin? "Heim
zu den Eltern." Sechzehn Jahre lang war sein Zuhause diese
Klinik gewesen, jetzt nicht mehr. Der Einzelrichter des
Bezirksgerichts Bülach hatte die Klinikleitung angewiesen,
Reto Huber "sofort zu entlassen".
Immer wieder Jugendliche angefasst
Reto Huber ist ein kontaktfreudiger, liebenswürdiger
Mann von 35 Jahren. Zum Verhängnis wurde ihm, dass
er von Zeit zu Zeit den Drang verspürt, seinen Penis
vor männlichen Jugendlichen zu entblössen. Es
begann, als er ins Pubertätsalter kam. Der Fünfzehnjährige
griff immer wieder anderen Buben zwischen die Beine. 1976
gab es ein erstes Strafverfahren wegen "wiederholter Nötigung
zu einer unzüchtigen Handlung". Der Jugendanwalt verfügte
als Erziehungsmassnahme für den emotional und geistig
kindlich gebliebenen Reto eine "medikamentöse Therapie
zur Dämpfung des Geschlechtstriebes". Die Therapie
zeigte - wie auch alle späteren Behandlungen - keinen
Erfolg. Eine Hormonkur hatte bloss zur Folge, d ass
Reto Hubers Körper fülliger wurde. Doch seine
triebhaften raschen übergriffe hielten an. Sie schockierten
manche der betroffenen Jugendlichen, obwohl Huber keine
Gewalt anwandte.
Es gab weitere Strafverfahren mit kleinen
Strafen, die alle in die gleiche Massnahme umgewandelt wurden,
die Einweisung in eine Heil- und Pflegeanstalt. Seit Juni
1980 war Reto Huber in der Klinik Hard interniert, nicht
direkt eingeschlossen, aber auch kein freier Mann. Aus Strafen
von total 34 Tagen Gefängnis wurde eine immer wieder
verlängerte Massnahme von sechzehn Jahren Dauer. Die
meisten Mörder sitzen kürzer.
Verbotene Sexualität
In Embrach war Herr Huber ein angenehmer Patient.
Er half der Klinik mehr, als dass sie ihm helfen konnte.
Sein Einsatz als Hilfspfleger auf der Altersabteilung wurde
sehr geschätzt. Ab und zu entwich er kurz aus dem Psychiatrie-Zentrum
und exhibitionierte sich vor Jugendlichen; einmal nur, im
Oktober 1986, ist bekannt geworden, dass er wieder einem
Jungen an den Hosenschlitz gefasst hatte. In der Klinik
ist Sexualität verboten. Der ärztliche Direktor
erklärte diese Woche an der Gerichtsverhandlung den
Grund: "Unsere Patientinnen und Patienten sind zum Teil
nicht urteilsfähig, und wir sind für ihr Wohl
verantwortlich. Wegen dieser Garantenstellung der Klinik
gilt bei uns die Hausregel, dass sexuelle Kontakte unter
Patienten nicht erwünscht sind. Ich verstehe, dass
das für Herrn Huber, der nicht auf eine Akutstation
passt, eine unmögliche Situation ist." Reto Huber hatte
einmal ein Verhältnis mit einem Patienten, den er seit
acht Jahren kennt. "Als der Arzt mir das verbot", erzählte
er, "habe ich ihm gesagt: Ihr Doktoren habt es gut, ihr
könnt am Abend heimgehen. Aber ich bleibe in der Anstalt
und soll mich zusammenreissen."

Gericht hob die
Massnahme auf
Irgendwie hatte man sich allseits daran gewöhnt,
dass Reto Huber zum Inventar der Klinik Hard gehörte.
Sein gelegentliches Exhibitionieren schien die Fortdauer
der strafrechtlichen Massnahme zu rechtfertigen. Erst als
1994 ein neuer Anwalt den Fall genauer anschaute, kam Bewegung
in das Verfahren. Der Anwalt stellte den Antrag, die Massnahme
sei als gescheitert zu erklären und der Patient sei
zu entlassen. Die Justizdirektion opponierte. Doch das damals
zuständige Bezirksgericht Uster kam im Mai 1995 zum
Schluss, "trotz der hohen Rückfallwahrscheinlichkeit"
seien die zu befürchtenden Delikte von Reto Huber "von
geringer Schwere", da er nur exhibitioniere und keine Gewalt
anwende. Die lange Dauer der Massnahme stehe in keinem Verhältnis
zu seinen Taten. Das Gericht beschloss deshalb die Entlassung
auf 31. August 1995.
Nahtlose Fortsetzung mittels FFE
Drei Wochen vor dem Entlassungstermin war
für Reto Huber noch immer kein Platz in einem Wohnheim
gefunden. Da verhängte die Vormundschaftsbehörde
kurzerhand die Fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE)
über ihn. Die strafrechtliche Massnahme war zwar aufgehoben,
doch nun wurde Huber zivilrechtlich "versenkt". äusserlich
änderte sich gar nichts, denn die Vormundschaftsbehörde
bestimmte die Klinik Hard als "geeignete Anstalt" im Sinne
des Gesetzes. Ein Anwalt von PSYCHEX,
einem Verein, der für die Freiheitsrechte von Psychiatriepatientinnen
und -patienten eintritt, nahm sich nun des Falls an. Das
erste Entlassungsgesuch lehnte das Bezirksgericht Bülach
Anfang März wegen der "hohen Rückfallgefahr" ab.
Am vergangenen Dienstag verhandelte das Gericht über
ein zweites Entlassungsgesuch. FFE-Prozesse finden in der
Anstalt statt, in welcher der Gesuchsteller untergebracht
ist. Ein Bezirksrichter und eine Gerichtssekretärin
reisten von Bülach an, aus Zürich kam ein Psychiater,
der Reto Huber begutachten musste. Ein Schulungsraum für
Aerzte wurde für zwei Stunden zum Gerichtssaal. Von
FFE-Verhandlungen ist die öffentlichkeit ausgeschlossen,
doch kann der Gesuchsteller zwei Vertrauenspersonen mitbringen.
Reto Huber lud dazu je einen Journalisten des TA und des
"Beobachters" ein und erklärte sich damit einverstanden,
dass sie über seinen Fall berichteten.
Plötzlich sind alle für Entlassung
In der Verhandlung waren alle Personen, die
der Richter befragte, der gleichen Meinung: Reto Huber gehört
nicht in eine psychiatrische Klinik. Der externe Psychiater,
der Klinikdirektor, der behandelnde Arzt, der seit Oktober
1995 eingesetzte Amtsvormund und natürlich der Rechtsanwalt
- ohne Ausnahme plädierten sie für die Entlassung
des Patienten. Die Rückfallgefahr (Ende Mai hatte Reto
Huber an einem Bahnhof wieder sein Glied hervorgeholt) werteten
sie als das kleinere übel. Der Klinikdirektor erwähnte
zwar Telefonanrufe von Eltern, die er wegen Reto Hubers
Exhibitionismus anhören musste: "Da ist kein Verständnis
zu spüren. Es gibt immer ein hartes Echo, wenn etwas
passiert." Aber auch er sah keine "Fremdgefährdung",
wie es die Vormundschaftsbehörde behauptet hatte. Nach
kurzer Beratung eröffnete der Richter das Urteil: "Das
Gesuch wird gutgeheissen, und die ärztliche Leitung
wird angewiesen, den Gesuchsteller sofort zu entlassen."
Und zu Reto Huber gewandt, sagte er: "Wir sind zwar der
Meinung, dass ein grosses Rückfallrisiko besteht, anderseits
scheint uns dieses Risiko tragbar, wenn Sie betreut werden."
Wenige Minuten später stand Reto Huber glücklich
draussen. Noch am gleichen Abend fuhr er heim zu seinen
Eltern. In ein paar Tagen kann er eine Einzimmerwohnung
beziehen, die sein Vormund für ihn gefunden hat. Ganz
in der Nähe ist eine geschützte Werkstätte,
sein künftiger Arbeitsort.

TA
18.1.1996
Die kurze Freiheit
des Mario S.
VON VIVIANE LüDI
Aus der Psychiatrie
entlassen - Polizei wartete mit Haftbefehl
Ein Jahr lang hatte er auf diesen Moment gewartet:
die Entlassung aus der Psychiatrischen Klinik Rheinau. Der
Einzelrichter hiess am Dienstagabend sein viertes Entlassungsgesuch
gut. Nur knappe fünf Minuten aber dauerte die Freiheit
des Mario S. Vor der Tür wartete die Polizei mit einem
Haftbefehl. Breitbeinig sitzt er da, den Kopf in den Händen,
die nervös auf und ab fahren und immer schneller werden,
als der Richter in seiner Urteilsverkündung endlich
zum einzig wichtigen Punkt kommt: " . . . mit sofortiger
Wirkung entlassen". Im Verhandlungszimmer der Psychiatrischen
Klinik Neu-Rheinau ist das Aufatmen der Anwesenden zu hören.
Erleichterung in den Gesichtern seiner Pflegemutter, der
Freundin und ihrer Schwester. Draussen dann, vor der Tür,
fallen sie sich in die Arme. Mario S. darf die Anstalt nach
einem Jahr verlassen, endlich. Er kann es noch kaum fassen.
Dafür aber sollte ihm auch keine Zeit bleiben: Unbemerkt
haben sich drei Polizisten postiert. Kalt lächelnd
eröffnen sie Mario S., er habe mitzukommen, sie hätten
einen Vorführbefehl. Erregung im Gang: "Ich bin sein
Anwalt", ist zu hören, doch ausrichten kann er nichts.
Mario S. wird wortlos abführt - das abrupte Ende einer
kurzen Freiheit. Der 22jährige, eben aus der geschlossenen
Abteilung entlassen, tauscht seine trostlose Bleibe mit
einer Gefängniszelle ein.
Schattenleben
An Rückschläge ist sich Mario S.
zeit seines jungen Lebens gewohnt. Nach der Geburt wurde
er zur Adoption freigegeben. Als Kind litt er unter einem
Psychoorganischen Syndrom (POS), das seine schulische und
persönliche Entwicklung hemmte. Schwierig gestaltete
sich auch die Beziehung zu seinen Adoptiveltern. Zum Bruch
kam es, als er 19 war. Mario S. wurde von der Familie eines
Freundes aufgenommen. Schon bald entwickelte sich eine Liebesbeziehung
zur Mutter des Freundes. Immer mehr wurde Mario S. zu einem
besitzergreifenden Liebhaber. Zum Eclat kam es, als der
damals 21jährige die um 26 Jahre ältere Frau vor
die Entscheidung stellte, zwischen ihm und ihrem Ehemann
zu wählen. Dabei rastete Mario S. aus. Mit einem Gewehr
bedrohte er sie, zwang sie schliesslich, mit ihm in einen
Wald zu fahren, wo er fünf Schrotladungen in die Luft
abfeuerte.
Im Hochsicherheitstrakt 89 A
Mario S. fand sich am 23. Januar 1995 im Hochsicherheitstrakt
89 A der Psychiatrischen Klinik Rheinau wieder, mit Zwischenstation
in Untersuchungshaft. Die Vormundschaftsbehörde hatte
eine Fürsorgerische Freiheitsentziehung (FFE) verfügt.
Dabei stützte sie sich unter anderem auf einen Brief
von Marios Adoptivvater, der die "Gefährlichkeit und
Unberechenbarkeit" seines Sohnes schilderte und die "Einweisung
in eine sichere, geschlossene psychiatrische Klinik" forderte.
Es wurde eine stationäre Begutachtung angeordnet. Fast
acht Monate nahm sie in Anspruch. Im Mai letzten Jahres
stellte Mario S. erstmals ein Entlassungsgesuch bei der
damals zuständigen Psychiatrischen Gerichtskommission
(PGK) - ohne Erfolg. Ein zweites Gesuch zog er im Juli zurück,
nachdem ihm zugesichert worden war, in eine Nachtklinik
übertreten zu können. Seine Hoffnung aber wurde
enttäuscht. Die Klinikleitung änderte ihre Beurteilung:
Schon bei den Vorbereitungen des übertritts habe sich
gezeigt, dass Mario "einer derart geringen Belastung kaum
standhalten kann". Sein pathologisches Agieren habe zugenomme n,
die Frage seiner Unberechenbarkeit sei daher wieder aktuell.
Im Klartext: Mario S. stelle ein Risiko für die öffentliche
Sicherheit dar.
"Absurde Psychiatrie-Groteske"
So nahm seinen Lauf, was Marios Verteidiger
als "absurde Psychiatrie-Groteske" bezeichnete. Das zweite
Entlassungsgesuch wurde von der PGK am 13. September 1995
abgewiesen. Der Entscheid stellte im wesentlichen auf die
Diagnose der Klinikärzte ab: Mario S. leide noch immer
minimal am POS. Ferner sei eine Borderline-Persönlichkeitsstörung
festgestellt worden. Erschwerend komme sein Krebsleiden
hinzu. Durch Metastasen im Gehirn habe er epileptische Anfälle.
Fazit: Ausserhalb des geschützten Rahmens der Klinik
könne es leicht zur Eskalation aggressiver Stimmungen
kommen. Der Schritt in die Freiheit sei deshalb nicht vertretbar.
Neues Regime mit Einzelrichter
Anders entschied der Andelfinger Richter
am Dienstagabend. Mario S. ist einer der ersten Fälle,
dessen Entlassungsgesuch vom Einzelrichter zu beurteilen
war. Das früher zuständige Fachgericht, die PGK,
wurde nach einem Volksentscheid Ende 1995 aufgelöst.
Der Richter liess sich durch ein neues psychiatrisches Gutachten
überzeugen, dass die Entlassung von Mario S. zu verantworten
sei - entgegen der Ansicht von Vormundschaftsbehörde
und Klinikleitung.
Von der Vergangenheit eingeholt
Statt neu anzufangen, sitzt Mario S. heute
im Gefängnis. Das alte Strafverfahren - wegen Nötigung,
begangen, als er seine Pflegemutter zu einer Fahrt in den
Wald zwang - hat ihn eingeholt. Sein Rechtsvertreter des
Vereins PSYCHEX hält die
Art der Festnahme für "absolut scheusslich", und sein
Strafverteidiger ist überzeugt, dass Mario S. morgen
schon wieder auf freiem Fuss sein wird, da kein Haftgrund
vorliege. Der zuständige Bezirksanwalt hingegen hält
sich bedeckt: Darüber habe der Haftrichter zu entscheiden.
Als Begründung für die erneute U-Haft kommt aber
nur Wiederholungsgefahr in Frage. Und von dieser ist der
Bezirksanwalt offenbar ausgegangen. So dürfte Mario
S. ein Opfer des gegenwärtigen politischen Klimas,
dem
Ruf nach mehr Sicherheit, geworden sein. "Niemand will schuld
sein, wenn doch etwas passiert", stellt Marios Verteidiger
resigniert fest.
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